Eine beeindruckende Schlange von Radfahrern kreuzt durch Karlsruhe, von der Südstadt über den Europaplatz zum Rheinhafen, auf vielbefahrenen Straßen statt Radwegen. Polizisten begleiten sie auf Motorrädern, schirmen sie vom Rest des Verkehrs ab und sichern Kreuzungen. Es ist keine Tour de Karlsruhe, auch keine Demonstration des ADFC – es ist die Critical Mass Karlsruhe. Sie will auf die Einschränkungen und Missstände für den Radverkehr hinweisen, die in der „zweitfreundlichsten Fahrradstadt Deutschlands“ bestehen.
Die Critical Mass ist eine direkte Aktion des friedlichen Protests, für manche auch nur eine spontane Gelegenheit zum Radeln in einer großen Gruppe von Gleichgesinnten. Im Gegensatz zu Demonstrationen, die bei Stadt und Polizei angemeldet werden müssen, ist die Critical Mass in ihrer Urform mehr ein Flashmob begeisterter Vertreter der Fahrrad-Lobby. Was die kritische Masse ausmacht? Laut § 27 der Straßenverkehrs-Ordnung ist es der sechzehnte Radfahrer in einem erkennbar geschlossenen Verbund, der die Verkehrsregeln ändert. Aus einer Gruppe wird dann aus legaler Sicht ein Fahrzeug-Äquivalent – der Radlertrupp hat dieselben Rechte wie ein Auto oder Bus, darf eine Fahrbahn für sich beanspruchen, Ampeln und Kreuzungen als Ganzes überqueren ohne vom übrigen Verkehr unterbrochen zu werden.
Reclaim the Streets-Bewegungen wie der Parking Day, der vor kurzem wieder öffentliche Parkplätze für einen Tag in urbane Oasen verwandelte, gibt es in der Beamtenstadt Karlsruhe eher vereinzelt. Auch die Critical Mass ist hier lange nicht so stark vertreten wie etwa in Stuttgart, Berlin oder Köln. Dennoch kommen jeden Monat zwischen 100 und 200 Fahrradenthusiasten zusammen, um eine Message gegen die Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch (Auto-)Verkehr und für mehr Lebensqualität in Innenstädten zu senden. Dahinter steht kein designierter Veranstalter, es gibt keine Hierarchie. Legal verantwortlich sind nicht einzelne Initiatoren, sondern alle Teilnehmer. Scheinbar zufällig treffen sich die Radler zu einem immer gleichen Zeit- und Treffpunkt – in Karlsruhe ist es der letzte Freitag im Monat um 18 Uhr am Kronenplatz.
Christa Walter und Thomas Gentner sind beide regelmäßige Teilnehmer der CM KA, sie haben schon selbst Touren angeführt und die Entwicklungen der Bewegung miterlebt. „Die Critical Mass in Karlsruhe wird seit einem Jahr wieder als Veranstaltung unter freiem Himmel angemeldet und von Polizisten begleitet. Das entspricht zwar nicht dem Prinzip der CM, ist aber aufgrund der wachsenden Teilnehmerzahlen nötig geworden“, erklärt Christa. 2011 setzte sich die Grüne Hochschulgruppe dafür ein, die Bewegung in Karlsruhe zu etablieren, damals noch als ungeplante Aktion.
Viele Verkehrsteilnehmer reagieren irritiert und teilweise aggressiv, wenn ein Pulk Radfahrer vielbefahrene Straßen blockiert. „Es kam durchaus zu kritischen Situationen, Autofahrer sind bedrohlich dicht aufgefahren oder haben ungeduldig gehupt. Die vielen Straßenbahnen in Karlsruhe tragen zu dieser angespannten Situation natürlich bei – Tram-Fahrer sind meist genauso rücksichtslos“, berichtet die engagierte CMlerin. Sie findet Radfahren in Karlsruhe ebenso frustrierend wie gefährlich, als Ursache nennt sie die überlastete Verkehrslage der Stadt. Auch Thomas sieht Handlungsbedarf: „Von Seiten der Stadt Karlsruhe wird zu wenig in die Radinfrastruktur investiert. Den Fahrradverkehr zu fördern hieße, den Autoverkehr einzuschränken und damit noch mehr zu erschweren.“ Die Lebensqualität in der Fächerstadt würde von weniger motorisiertem Verkehr jedoch profitieren.
Karlsruhe steht nach Münster auf dem zweiten Platz der fahrradfreundlichsten Städte Deutschlands – und ruht sich auf diesem Titel aus. Im internationalen Vergleich wird allerdings klar, wieviel mehr Unterstützung Radfahrer erfahren können und dass die Lebensqualität dadurch enorm steigt. Christa führt als Beispiel Zürich an und nennt als ultimatives Vorbild Kopenhagen – dort wird von städtischer Seite das Ziel verfolgt, jedes Jahr drei Prozent weniger Autofahrten zu erreichen.
Wenn die Stadt keine Initiative zeigt, müssen die betroffenen Bürger selbst aktiv werden. Christa Walter besitzt selbst kein Auto: „In einer übersichtlichen Stadt wie Karlsruhe brauche ich kein eigenes Fahrzeug, wir haben ein gut ausgebautes ÖPNV-Netz und wenn das Fahrrad mal nicht ausreicht, gibt es CarSharing.“ Thomas fährt selbst Auto, aber auch gerne und viel Rad. Er findet: „Eine Stadt sollte in erster Linie Lebensraum sein, dann Verkehrsraum.“ Die Critical Mass soll das ins öffentliche Bewusstsein bringen. Gleichzeitig ist sie eine Ode ans Fahrradfahren, ein fröhliches Happening für alle Radfreunde Karlsruhes.
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Wer selbst die Critical Mass Karlsruhe erleben oder auch mal eine Strecke austüfteln und leiten möchte, findet sich am letzten Freitag des Monats um 18 Uhr am Kronenplatz ein oder geht zum CM-Treff. Auf der CM KA-Webseite gibt es den Liveticker zum nächsten zufälligen Zusammentreffen, die Facebook-Präsenz verrät meist die geplante Strecke und Orga-Termine.
Super auf den Punkt gebracht. Wenn also Karlsruhe Nummer 2 der Fahrradfreundlichsten Städte ist dann ist noch sehr viel zu tun.
Man muss nur mal an Moltkestraße/Siemensallee denken…… Radwege werden als Parkplaz missbraucht / Man wird als Radfahrer geschnitten, beträgt, ignoriert….. Die Radwege sind in einem Zustand, die schon fast ein Fully verlangen / dazu teilweise sehr schmal und…….
Toller Artikel und tolle Aktion!
Ein Hoch auf die engagierten Radler; aufdass die Stadt ihrem Klingeln Gehör schenken möge!
Auch von meiner Seite vielen Dank für den schönen Artikel. Er wurde übrigens auch an den email-Verteiler der CM weiter verlinkt und hoffentlich auch von vielen gelesen. Auf der Facebook-Seite der CM ist er bestimmt auch untergekommen.
Das ist eine klasse Aktion. Die sollte auch den Verantwortlichen in der Stadt Druck machen, sich nicht auf irgendwo eingeholten Preisen und Auszeichnungen zu fixieren, mit denen man das Image der Stadt medial aufpoliert und die eigene Selbstzufriedenheit steigert. Die radfahrfreundliche Stadt Karlsruhe muss von der Lebenswelt der Radfahrenden her verstanden und umgestaltet werden.