Im Rheinhafen haben sich Künstler mit dem „Studio Nordbecken“ ihr eigens kreatives Utopia geschaffen. Fernab von Stadt und Mensch arbeiten sie an ihren Werken. Wir haben die Jungs besucht und waren von der Atmosphäre des Rheinhafens, den Jungs und dem Studio schlichtweg beeindruckt. Ein Erlebnisbericht.
Nachdem wir den Termin fünf Mal verschoben haben, sitze ich nun in der Holzklasse der klapprigen S5, Endstation Rheinhafen. Es ist schrecklich warm und ich bin der einzige Fahrgast. Die Bahnführerin (was ein schreckliches Wort) schmeißt mich 100 Meter vor dem Ziel raus. Zack stehe ich vor dem imposanten Bau des Elektrizitätswerks. Das 100 Jahre alte Ding fügt sich furchtbar seltsam in die Szenerie, es sieht aus wie ein Pink-Floyd-Plattencover. Das rote Abendlicht tut sein Übriges. Laut Google Maps kann es allzu weit nicht mehr sein, ich beginne den Fußmarsch. „HAFENGEBIET“ steht da groß auf einem Schild – hier herrschen also andere Gesetze. Ich passiere schwarze Teerberglandschaften, über mir fliegen Krähenschwärme, ich gehe vorbei an leeren Imbissbuden. Links von mir ragen die beiden merkwürdigen ehemaligen Müllhügel in die Höhe, die jetzt mit Hilfe von Windrädern die Energie für unsere Zukunft sichern sollen. Der Weg zum Atelier NORDBECKEN ist weiter als gedacht. Schritt für Schritt wird es immer ruhiger um mich herum, einzig der Spott der Krähen ist noch zu vernehmen und Metallzerschredderungsgeräusche von großen Maschinen schallen aus der Ferne und bringen den Zusammensetzwahn der deutschen Sprache niedergeschrieben zum Exitus. Hier muss es sein: „Nordbeckenstraße Nr. 9 Stu…Stu…Studio“, steht auf dem Briefkasten. Aus der Verunsicherung heraus, wie ich da jetzt hinein kommen soll, klettere ich etwas unbeholfen auf die Ladefläche. Eine Gypsy-Jazz-Platte dreht in der Tiefe der Halle ihre Runden und spuckt entspannte Töne aus.
Tobias Talbot (Tobi) und Nemanja Sarbaic (Nescha), zwei der fünf Künstler, heißen mich herzlich willkommen in ihrem 900 Quadratmeter riesigen Atelier, einer Art kreativem Utopia. Tobi trägt ein ärmelloses Shirt und kurzes blondes Haar. Er führt mich nach oben, hier ist Platz um während der Pausen zu entspannen und sich mal kurz aufs Ohr zu hauen. Im vorderen Teil der Halle stehen überall Leinwände in verschiedensten Formaten, vier Maler arbeiten hier jeweils in ihrer eigenen Ecke. Wie das in Ateliers so üblich ist, stehen überall Farben, Krimskrams, Stahlrohre und Bierdosen, die Luft riecht terpentingeschwängert, durch den Raum hängen alte Stofffetzen. Im hinteren Teil befindet sich eine mit Instrumenten bestückte Bühne, neben einem von einem Wasserschaden lädierten Flügel. Vor einiger Zeit hat es beim Nachbarn gebrannt. Ein alter Mann mit riesiger Büchersammlung. Nur durch einen Zufall bekamen sie den Brand mit. Der Flügel wurde dabei Opfer der Löscharbeiten.
Bei einem Bier am Küchentisch lerne ich auch den Künstler Alex Feuerstein und den Musiker Jonathan Zacharias kennen. Jonathan spielt in mehreren Bands, unter anderem ist er Drummer bei Le Grand Uff Zaque. „Wir alle haben hier einen anderen Arbeitsrhythmus“, erklärt mir Alex. „Ich zum Beispiel stehe einfach morgens um 6 senkrecht im Bett, ich bin dann wach, während die anderen meistens später starten. Außerdem pusht es einen ja auch, wenn die anderen am arbeiten sind.“ Auf die Frage, ob Alex von seinen Bildern leben kann, antwortet er „man lebt, aber halt wie ein Hund“. Aber das scheint eben seit jeher der große unausgesprochene Deal zu sein. Manchmal fände Alex es auch beruhigender, auf einem kleinen Haufen Geld im Kopfkissen einzuschlafen.
Nescha hat vor einiger Zeit eine Art Stammtischreihe für Kreativschaffende in der gemeinsamen Küche veranstaltet. „Der Input, den ich teilweise von Leuten bekommen habe, hat mich fast umgehauen.“ Ein konkretes Ziel hatten diese Sitzungen nicht, im Vordergrund stand der Austausch, das Gespräch. Hier zeigte sich erneut, dass Karlsruhe weit mehr bietet, als mancher nörgelnd festzustellen vermag. „Vor einiger Zeit haben wir hier eine Lesung veranstaltet, da kamen Leute aus Heidelberg, die haben dann Texte vorgelesen, mit dem Thema ‚Künstler in Athen’ und wie diese immer weiter an den Stadtrand verbannt wurden“, erzählt Nescha und lacht anschließend.
Seit nun gut drei Jahren haben die Jungs das NORDBECKEN bezogen. „Ich stand hier zum ersten Mal drin und dachte sofort, yes das ist es wonach wir zehn Jahre gesucht haben“, erzählt Tobi. Von den Handwerkern um sie herum werden die Künstler nach eigenen Angaben „super gut“ aufgenommen. Oftmals verwenden sie überschüssige Materialien der Handwerker für ihre Kunst. Das Kollektiv kennt sich schon seit der gemeinsamen Jugend, die sie in der „Alten Apotheke“ verbracht haben. Ein Ort, an dem sie sich kreativ austoben durften. Die 1848 erbaute Hofapotheke mit Sitz in Langensteinbach bei Karlsruhe hat sich über Jahre zu einem Treffpunkt für junge bildende Künstler, Musiker und Filmemacher entwickelt. 2004 wurde von den damaligen Schülern die erste Ausstellung verwirklicht.
Dieses Prinzip haben sich die Jungs bewahrt und so wird am kommenden Freitag groß eingeladen: Geplant ist ein großes Kunst-Festival mit Lesungen, Performances, Austellungen, Filmen und natürlich Musik, Bier und Party. „Im letzten Jahr kamen fast 1000 Leute. Dieses Jahr wird fett, wir freuen uns riesig“, so Tobi. Die Vernissage am kommenden Freitag um 19 Uhr stellt den Beginn dar. Werke aus den Bereichen Malerei, Fotografie, Grafik und Skulptur des Künstlerkollektivs werden im Atelier zu sehen sein. Anschließend wird gefeiert angesagt mit DJs und der Band The Visit. Der Eintritt ist frei und die Getränke sind günstiger als in einem Dönerladen. Mehr Infos zum Programm erhaltet ihr unter: http://www.nordbecken.de
Der apokalyptisch-charmante Flair des Hafengebiets, gespeist durch die Seele von Gevatter Rhein ist bei meinem Besuch so überdeutlich und greifbar. Es fällt mir schwer mich wieder zu lösen. Für den Rückweg offeriert mir Alex seinen Gepäckträger. Gemeinsam fahren wir zurück in Richtung Stadt, von der schrägen Hafenszenerie wieder ins Urbane, zurück aus diesem wunderbaren kleinen Utopia und erneut hinein in diese so überreale, gefächerte Stadt.
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